Jeder, der sich intensiver mit der Zukunft auseinandersetzt, begibt sich
fast automatisch auf interdisziplinäres Terrain. Was auch nicht sonderlich
verwunderlich ist, weil die Zukunft an sich niemals nur eine ganz bestimmte
und damit einzelne Perspektive aufzeigt oder widerspiegelt. Bezogen auf die
Erforschung der Zukunft bedeutet das demnach nicht mit nur einer Ausformung
von Zukunft, sondern man muss sich parallel immer mit mehreren und unterschiedlichen
Betrachtungsweisen auseinandersetzen.
Wenn also ein Zukunftsforscher von der Zukunft spricht, dann handelt es sich
dabei sowohl um eine mögliche, wahrscheinliche als auch einer gewünschten
Betrachtung von "Zukünften". Was dabei immer noch hinzukommen muss, ist die
Einbeziehung der Vergangenheit und der Gegenwart. Und gleichzeitig zeichnet
aber jeden glaubwürdigen Zukunftsforscher auch Nicht-Wissen aus. Das heißt
trotz aller unterschiedlichen Betrachtungsweisen von zukünftigen Szenarien
lässt sich das Zukünftige prinzipiell niemals vollständig bestimmen und schon
gar nicht punktgenau vorhersagen
Die Kunst unterschiedlichen Zukunftsszenarien zu entwickeln, basiert niemals
auf der Inanspruchnahme einzelner wissenschaftlicher Disziplinen. Denn die
der Moderne zugrundeliegende Komplexität und ihre Abhängigkeit zu unterschiedlichen
wissenschaftlichen Feldern sind für mögliche Szenarien von grundlegender Bedeutung.
Die Zukunftsforschung arbeitet deshalb ausschließlich inter- und multidisziplinär.
Sie bezieht sich dabei auf Erkenntnisse und Wissensstände unterschiedlicher
Fachrichtungen und Praxisbereiche einzelner Forschungsgebiete. Die aus einer
Zukunfts(er)forschung abgeleiteten Ergebnisse dienen in erster Linie unserer
Gesellschaft und Wirtschaft, aber gleichzeitig dienen sie auch der Politik
als wichtige Orientierungshilfen und auch als mögliche Handlungsempfehlungen.
Obwohl sich die Zukunftsforschung mittlerweile in Ländern wie USA zum festen
Bestandteil der Wissenschaft etabliert hat, herrscht in Deutschland immer
noch ein eher zwiespältiges Verhältnis zu dieser Wissenschaft. Während sich
andernorts vergleichsweise viele Wissenschaftler um die Zukunft Gedanken machen,
kann man in Deutschland den Eindruck gewinnen, dass die Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit mehr Gewicht hat.. Der Umstand, dass es mehr als 3000
wissenschaftliche Einrichtungen gibt, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen,
belegt dies sehr eindrucksvoll. Demgegenüber stehen in Deutschland gerade
einmal magere acht bis zehn Institute, die sich wissenschaftlich mit der Zukunft
beschäftigen.
Diese unterschiedliche Gewichtung beruht meines Erachtens auf mehreren grundlegenden
Missständen, auf die ich im Folgenden etwas genauer eingehen werde. Betrachtet
man den Wissenschaftsbetrieb in Deutschland, so lässt sich leicht erkennen,
dass es inzwischen eine Vielzahl von "Wissenschaftsdomänen" gibt, die sich
jeweils untereinander klar abzugrenzen versuchen, manchmal mit erheblichem
Aufwand. Und in dem Maße wie sie sich mühen sich abzugrenzen, existiert auch
eine disziplinäre Trennung auf ihren unterschiedlichen Arbeitsgebieten. Ich
möchte an dieser Stelle nicht behaupten, dass sich diese einzelnen Wissenschaften
nicht auch mit zukünftigen Entwicklungen auseinander setzen. Was allerdings
fehlt, ist eine Art Schnittstelle im Sinne einer Art wissenschaftlicherer
Verbindungsdisziplin.
Wenn man sich tiefgreifendere Gedanken über die Zukunft als Ganzes macht,
dann ist eine solche Gesamtbetrachtung praktisch unumgänglich. Denn wenn wir
beispielsweise über sich verändernde Arbeitsmodelle der Zukunft sprechen,
kann dies nur über die Einzelbetrachtung unterschiedlicher wissenschaftlicher
Disziplinen in einem Gesamtkontext visualisiert und veranschaulicht werden.
Seien es dabei demografische, unterschiedlich wirtschaftliche aber auch soziologische
oder politische Aspekte, um nur einige aufzuzeigen. Die Zusammenführung der
dafür zugrundeliegenden einzelnen Informationen zu einem gesamthaften Zukunftsbild
ist für mögliche Handlungsstrategien ein unabdingbares Muss.
Damit sind wir auch schon beim nächsten Problem. Eines, das bereits sehr früh
in unsere geistige Entwicklung injiziert wird. Es handelt sich dabei um ein
grundsätzliches Problem in unserem Bildungssystem. Die dabei größtenteils
angewendeten disziplinären Ansätze sorgen bereits in einem sehr frühen Stadium
dafür, uns glauben zu lassen, dass disziplinäres Fachwissen mit Bildung gleichzusetzen
ist. Wir vermitteln dabei an unseren Bildungsstätten Wissen, das meist vorherrschende
Meinungen und deren "aktuellen Wahrheiten" widerspiegelt. Frei nach dem Motto
"halte dich an das, was ich Dir sage, und alles wird gut". Die Frage des Ursprungs
nach solchen vorherrschenden Meinungen und aktuellen Wahrheiten bleibt dabei
aber meist unbegründet.
Die größte, weil folgenschwere Problematik ist dabei jedoch, dass wir unserer
zukünftigen Generation zum einem die Neugierde entziehen und zum anderen die
Fähigkeit zum vernetzten Denken aberziehen. Kindliche Neugier und die Fähigkeit
zu vernetzen sind die beiden wesentlichen Elemente, wenn es darum geht, sowohl
soziale als auch kulturelle Kompetenz zu entwickeln, wie die moderen Hirnforschung
eindrucksvoll belegt. Das gegenwärtige Bildungssystem leitet unsere Kinder
förmlich auf Autobahnen mit äußerst engen Leitplanken. Wir erziehen unseren
Nachwuchs förmlich dazu, ihre Problemstellungen entweder mit althergebrachtem
Wissen zu lösen oder aber diese eben einfach ignorieren. Zukunft über solche
Ansätze zu gestalten, wird zukünftig aber immer öfters ein gefährliches Unterfangen
darstellen. Denn heute haben wir es, bezogen auf unsere Vergangenheit, mit
ganz anderen Verschiebungen und Herausforderungen zu tun.
Zukünftig wird es nicht mehr nur darum gehen, ein Problem mit alten Erfahrungen
aus einem Bereich zu lösen, sondern einer immer höher werdenden Komplexität
gilt es multidisziplinär, offen und damit auch kreativ entgegenzutreten. Wir
müssen begreifen, dass wir Lösungen für Probleme entwickeln müssen, deren
Auswirkungen wir heute nicht vollständig absehen können, der Folgen wir bisweilen
noch nicht einmal erahnen. Dabei ausschließlich auf altes Denken zurückzugreifen,
wird uns nicht wirklich ans Ziel führen. Was wir brauchen ist vielmehr ein
neues Denken, das sich auch in neuen Strukturen entwickeln und entfalten kann.
Wenn wir wirklich durch unser Denken und Handeln diese Welt verändern wollen,
dann sollten wir uns nach meiner Einschätzung anstelle des Paukens von Daten
und Fakten, also fixierten Inhalten, mehr auf neue, vielleicht dynamischere
und zeitgerechtere Rahmenbedingungen konzentrieren. Wir benötigen dringend
Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, ein grundlegend neues Zukunftsverständnis
zu entwickeln. Der entstandene Tunnelblick des Menschen ist hierfür nicht
hilfreich, sondern Bildung muss Menschen wieder neugierig und offen für die
Zukunft machen.
Warum ich das sage, hat einen ganz bestimmten Grund. Denn neugierige Menschen
schalten ihr "Aktivitätsradar" nicht nur an, sondern sie sind auch empfangsbereit
für Neues, sie haben eine bessere Wahrnehmung. Das ist ganz wichtig, da durch
diesen Mechanismus auch die notwendige Offenheit für etwas Neues entwickelt
werden kann. Erst über diesen Schritt kann in der Folge dann so etwas wie
eine andere Sichtweise erzeugt werden. Und nur neue Sichtweisen führen letztlich
dazu, auch eine andere Haltung einzunehmen. Erst wenn dieser Weg individuell
durchlaufen wird, kann schließlich am Ende etwas entstehen, das wir als Bewusstseinsveränderung
bezeichnen könnten.
Genaugenommen sind wir alle Zukunftsgestalter. Der eine mehr, der andere weniger.
Denn sowohl der einzelne Zukunftsgestalter als auch der Zukunftsforscher orientiert
sich an wichtigen Themen und Herausforderungen seiner persönlichen wie der
gesellschaftlichen Zukunft. Um das aber erfolgreich bewerkstelligen zu können,
sollten wir uns bewusst sein, dass wir mehrere Fronten Überdenken sollten.
Eine davon wird sein, dass wir lernen sollten, uns mit mehreren Zusammenhängen
sowie deren unterschiedlichen Wechselwirkungen auseinander zu setzen. Wir
müssen aber ebenso erkennen, dass unsere Systeme auch weiterhin an Komplexität
zunehmen werden. Diese Tatsache bedeutet allerdings, dass wir uns zunehmend
mit der Funktionsweise von komplexen Systemen auseinandersetzen sollten; das
sollte Bestandteil von Lernen sein. Die dafür notwendigen und wichtigen Antworten
zu finden, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht in den uns bekannten
Bildungsräumen, geschweige denn mit den uns anerzogenen Denkmustern herbeiführen
lassen.
Wir benötigen neue Prozesse des Verstehens, aber auch neue Herangehensweisen
an Probleme. Dabei wird es aus meiner Sicht unumgänglich sein, unser Denken
in fixierten Disziplinen kritisch zu hinterfragen. Jeder, der sich um den
Zustand dieser Welt ernsthafte Gedanken macht, kann dabei recht schnell erkennen,
wie wichtig es ist, Wechselbeziehungen zu verstehen. Nur dadurch wird es uns
möglich, den Zustand eines Systems aus einer Art übergeordneten Perspektive
zu erfassen. Klar, Übersicht alleine löst uns die Probleme noch nicht, aber
wir können uns damit ein Gesamtbild verschaffen, dass uns vielleicht ein erstes
Mal erahnen lässt, welche Möglichkeiten und Chancen in völlig neuen Konzepten
und Modellen bereits vor uns liegen.
© Klaus Kofler